Zuckerwettstreit

Foto: Jerzy Bin

Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl,
während des Krieges und nach der Jagd.

Wäre Bismarck nicht Politiker (und Jäger?) gewesen, sondern Weinbauer in der heutigen Zeit, würde dieser Spruch (der wahrscheinlich gar nicht von ihm selbst stammt) wohl anders lauten. Die Zeit der Traubenreife und der Weinlese paßt nämlich auch wunderbar in diese Aufzählung.

Bis in die 1980er-Jahre unterschied sich die Reife der Trauben der verschiedenen Weinbauern in unserer Region kaum. Alle Weingärten wurden nach dem gleichen System bewirtschaftet, die Erträge waren überall ähnlich hoch und die Lese wurde bis zur Überreife und beginnendem Botrytisbefall hinausgeschoben.

Die Traubenreife, sprich die Zuckergrade, hochzulügen war damals kein großes Thema. Den Kunden wäre es egal gewesen, und den Weinbauernkollegen gegenüber ziemlich sinnlos.

Mit zunehmender Qualitätsorientierung änderte sich jedoch die Bewirtschaftung und damit der Reifeverlauf. Niedrigere Erträge, intensivere und/oder bewußtere Laubarbeiten, höhere Laubwände, Begrünungssysteme, reifefördernde Unterlagsreben und ertragsschwächere Klone lassen die Trauben früher reifen und bringen höhere Zuckergrade. Und weil diese Maßnahmen nicht überall oder zumindest nicht überall gleichzeitig und gleich konsequent umgesetzt werden, kann heute zwischen zwei benachbarten Weingärten mit der gleichen Sorte ein Reifeunterschied von mehreren Wochen liegen.

Dieser Zusammenhang ist offenbar selbst Weinbauernkollegen nicht immer bewußt. Deshalb wird man von manchen für einen Lügner gehalten oder sogar ein solcher genannt, wenn man von den vergleichsweise hohen Zuckergraden seiner Trauben spricht.

Mir wurde das zum ersten Mal bewußt, als wir Anfang September 1993 sehr ausgiebig unsere Weingärten beprobt (was bei vielen bis heute nicht üblich ist), und die gemessenen Zuckergrade im Ort veröffentlicht haben.

Was als Orientierungshilfe für die Kollegen gedacht war, brachte uns (nicht nur, aber doch in großem Ausmaß) den Vorwurf der Schönfärberei ein. Ohne das ich genau weiß warum führt unsere Bewirtschaftungsweise nämlich offensichtlich dazu, dass unsere Trauben vergleichsweise früh mit der Zuckereinlagerung beginnen. Dementsprechend hoch und für manche unglaubwürdig sind die Werte dann zwei Wochen vor der Lese im Vergleich zu anderen.

Seither hat sich einiges verändert. Längst stehen wir mit unseren Zahlen nicht mehr alleine da, und manche von denen mit weniger bzw. später reifen Trauben (was übrigens bei entsprechend angepaßtem Lesetermin kein Nachteil sein muß) legen im Gespräch unter Kollegen wohl lieber selbst ein oder zwei Grade zu ihren Meßwerten dazu, als die anderen der Lüge zu bezichtigen. So hat sich geradezu eine Art Wettlauf um die höchsten Zuckerwerte und den frühesten Lesebeginn entwickelt.

Dem versuche ich mich mittlerweile so gut wie möglich zu entziehen und runde deshalb im Gespräch mit Weinbauern jenseits des engsten Freundeskreises lieber ein wenig ab, statt wie andere großzügig auf. Schließlich sind die Unterschiede bei der Lese selbst dann oft gar nicht so groß, denn unsere Trauben stellen nach meiner langjährigen Beobachtung die Zuckereinlagerung relativ früh ein.

Gradationen von 21 oder mehr KMW (bei gesunden, nicht überreifen Trauben), von denen auch glaubwürdige Kollegen manchmal berichten, würden meine Reben selbst dann nicht bringen, wenn ich mit der Lese bei perfektem Herbstwetter bis in den November warten würde. Dementsprechend schwer fällt es mir, an das jahrgangsunabhängige und flächendeckende Auftreten solch hoher Werte zu glauben.

Wie in der vierteiligen Serie „Alkoholzunahmi“ vor ein paar Jahren bin ich nach wie vor der Meinung, dass die heute weit verbreiteten hohen Alkoholwerte nicht immer  mit den Zuckergraden der entsprechenden Trauben bei der Lese korrelieren…

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