Wann sind die Trauben reif?

Eine beliebte Fangfrage von mir in Weinseminaren zum Thema Weinbau und Kellerwirtschaft für Nicht-Winzer lautet: Wann würden Sie die Trauben ernten? Üblicherweise folgt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Wenn sie reif sind! Worauf ich kontere: Und wann sind die Trauben reif?

Darauf folgt fast immer ein betretenes Schweigen. Das ist wenig verwunderlich, denn selbst viele Winzer haben kaum eine Ahnung von den komplexen Vorgängen in den Trauben während des Reifeprozesses.

Viel Säure, kein Zucker

Am Beginn der Traubenreife, in Normaljahren im Burgenland also etwa Ende Juli, lagert der Rebstock beinahe ausschließlich Säuren in die weich werdenden Beeren ein. Dazu „baut“ er den Zucker, der via Photosynthese in den Blättern gebildet wird in Wein- und Äpfelsäure um. In dieser Phase ist in der Regel das Wasser der limitierende Faktor. In heißen, trockenen Jahrgängen kann der Rebstock das reichlich vorhandene Sonnenlicht meist nicht im selben Ausmaß nutzen wie in feuchteren, da ihm das für die Photosynthese notwendige Wasser fehlt.

Dieser Wassermangel äußert sich nicht zwangsläufig in sichtbaren Streßsymptomen. Es ist vielmehr so, daß die Rebe während der besonders heißen Mittagsstunden ihre Lebenstätigkeit (und damit auch die Photosynthese) auf ein Minimum reduziert, um Wasser zu sparen. Dieses Phänomen führt dazu, daß der Ausgangssäuregehalt der Trauben in heißen, trockenen Jahren deutlich niedriger ist, als in kühleren und/oder feuchteren.

Der Zucker steigt, die Säure fällt

Während der nun einsetztenden Reifephase nimmt der Zuckergehalt der Trauben über einen langen Zeitraum relativ gleichmäßig zu. Die Zuckerbildung wird durch Trockenheit weit weniger gebremst, als die Säureeinlagerung, nicht zuletzt weil in diesem Reifestadium die hochsommerliche Trockenperiode in der Regel schon vorbei ist.

Da der Zuckergehalt bei halbwegs stabilem Wetter relativ gleichmäßig und auch im voraus einschätzbar zunimmt (je nach Wetter, Behang und Lage etwa 1 bis 2 °KMW pro Woche) dient er als DER Reifeparameter für Weintrauben schlechthin. Zumal er mit dem Refraktometer nach dem Prinzip der Lichtbrechung äußerst einfach zu messen ist.

Parallel zur Zuckerzunahme, von dieser allerdings völlig unabhängig nimmt der Säuregehalt in den Trauben ab. Der Rebstock „veratmet“ vor allem Äpfelsäure, um aus ihr „chemische“ Energie für seine Lebensprozesse während der Nachtstunden zu gewinnen, da ohne Sonnenlicht die Photosynthese als Energiequelle ausfällt.

Je wärmer die Nächte sind, umso mehr Energie benötigt die Rebe und umso rascher nimmt der hohe Anfangssäuregehalt der Trauben ab. In heißen, trockenen Jahren ist der Winzer also nicht nur mit einem deutlich niedrigeren Ausgangssäuregehalt bei Reifebeginn konfrontiert, sondern durch die verfrühte Reifephase im August anstatt im September und Oktober auch mit relativ hohen Nachttemperaturen und einer dementsprechend raschen Säureabnahme in den Trauben.

In Jahrgängen wie 2000 oder 2003 bestimmt daher sehr oft der Säuregehalt in den Trauben den Lesezeitpunkt und nicht die Zuckergradation. Vor allem beim Weißwein kann es sinnvoll sein, auf ein Zuwarten mit der Ernte und eine damit verbundene Zuckerzunahme zu verzichten, um dem Wein einen ausreichenden, harmonischen Säuregehalt zu sichern. Wird in solchen Jahrgängen nur der Zuckergehalt (und seine weitere Zunahme) als Entscheidungskriterium für den Lesetermin herangezogen werden die Trauben oft zu spät geerntet und unharmonisch säurearme, breite und einseitig alkohollastige Weine sind die Folge.

Ab etwa 18 bis 19 °KMW (was einen trockenen Wein mit etwa 12 bis 13 % Alkohol ergibt) steigt der Zuckergehalt in den Trauben nur noch sehr langsam weiter an oder bleibt sogar auch bei schönem Wetter über Tage und Wochen fast konstant. Trotzdem kann es vor allem in kühleren Jahrgängen sinnvoll sein, mit der Ernte zuzuwarten, bis sich der Säuregehalt in den Trauben auf ein harmonisches Niveau reduziert hat. In solchen Jahrgängen wird oft zu früh geerntet, wenn nur die stagnierende Zuckerreife, nicht aber die noch nicht abgeschlossene „Säurereife“ zur Festlegung des Erntetermins herangezogen wird.

Für die Säureharmonie im späteren Wein ist nämlich nicht nur der Säuregehalt, sondern auch die Säurezusammensetzung ausschlaggebend. Da sich der Weinsäuregehalt in den Trauben während der Reife kaum ändert, der Äpfelsäuregehalt aber stark abnimmt, überwiegt in kühlen, potentiell „unreifen“ Jahrgängen im Wein eher die Äpfelsäure, in warmen, potentiell „überreifen“ Jahrgängen eher die Weinsäure.

Ein höherer Äpfelsäuregehalt kann (Weiß-)Weine fruchtiger, frischer und lebendiger machen, im negativen Fall allerdings auch säurebetonter, spitzer und unharmonischer. Weine mit überwiegendem Weinsäuregehalt schmecken weicher, reifer und runder und wirken selbst als Jungweine oft gar nicht ausgesprochen jugendlich und erfrischend. Trotzdem (oder eigentlich genau deshalb) sind diese Weine sehr stabil und altern deutlich langsamer als solche mit höherem Äpfelsäureanteil.

Und der Geschmack?

Jahrzehntelang war der Zuckergehalt als einziges Qualitätskriterum für Trauben so dominant, daß er sogar maßgeblichen Eingang in die Weingesetzgebung gefunden hat. Auch wenn es im Gesetzestext (Seite 6) nette Beschreibungen für die einzelnen Prädikatsweinstufen gibt, de facto ist ausschließlich der Zuckergehalt ausschlaggebend, ob auf dem Etikett Spätlese oder Trockenbeerenauslese stehen darf. Spätestens Anfang der 90er Jahre wurde den qualitätsorientierten Winzern bewußt, daß auch der Säuregehalt der Trauben einen wichtiger Faktor für die spätere Weinqualität darstellt. Der Geschmack der Trauben hingegen wird erst seit wenigen Jahren wirklich bewußt als Reifeindikator beobachtet.

Die Entwicklung von Aroma, Extrakt und Tannin in den Trauben folgt eigenen Gesetzen. Während Zucker- und Säuregehalt stark von der Temperatur abhängig sind und höhere Temperaturen die Reife beschleunigen können, benötigt die Geschmacksreife von der Blüte weg etwa 100 bis 110 Tage, beinahe unabhängig von der Temperatur. Dieses Phänomen ist dafür verantwortlich, daß hochwertige Rieslinge von der Mosel auch bei sehr niedrigen Zucker- bzw. Alkoholgehalten (auch unter 10%) „reif“ schmecken können, während der eine oder andere Cabernet aus Australien trotz hoher Zuckerreife und demensprechend hohem Alkoholgehalt von 14% oder mehr ein grasiges Aroma und unreife Tannine aufweist.

In kühlen Gebieten produziert die Rebe weniger Zucker, schafft es aber bei einer ausreichend langen Vegetationsperiode die Trauben trotzdem geschmacklich reif schmecken zu lassen. Heiße Gebiete oder Jahrgänge lassen zwar den Zuckergehalt in den Trauben rasch ansteigen, die geschmackliche Reife hinkt aber hinterher, da sie sich durch das Wetter nur kaum beschleunigen läßt.

Im unteren Reifebereich schmecken die meisten Traubensorten relativ ähnlich. Es dominieren „grüne“, grasig-vegetale Aromen und unreife Tannine (bei den Rotweinsorten). Schreitet die Reife fort, werden die Sortenunterschiede deutlicher. Im mittleren Reifebereich, d.h. im Burgenland in den meisten Jahren bei etwa 16 bis 18 °KMW, schmeckt der Grüne Veltliner am pfeffrigsten, der Riesling am intensivsten nach Steinobst und der Sauvignon am deutlichsten nach Stachelbeeren. Aus diesem Grund werden die meisten österreichischen Weißweine in diesem, manchmal Bukettreife genannten Stadium geerntet. Obwohl diese Aromastoffe sehr animierend und ausgeprägt sind, sind sie nicht besonders stabil. Sie zerfallen im fertigen Wein innerhalb von wenigen Jahren sind ein Grund, warum Weine aus „mittelreifen“ Trauben in ihrer Jugend viel Trinkvergnügen bereiten aber nur wenige Jahre lagerfähig sind.

Läßt man die Trauben länger an den Reben entwickeln sich die Aromastoffe weiter. Im oberen Reifebereich sind sie meist weit weniger intensiv, die Sortenunterschiede werden geringer und die Komplexität und Haltbarkeit der Aromen nimmt zu. Veltliner, Riesling, Sauvignon, Chardonnay und Co. schmecken daher im hochreifen Bereich zwar nicht immer so typisch, wie erwartet, dafür bleibt ihr Bukett aber über Jahre stabil und zeigt Alterserscheinungen später und in weit geringerem Ausmaß.

Die ominöse „physiologische Reife“

Kaum ein Weinbegriff (mit Ausnahme des berüchtigten T-Wortes 🙂 ) wird so oft mißverstanden, wie die „physiologische Reife“. Auch wenn es mitunter anders dargestellt wird, so ist es nicht automatisch ein Zeichen von Qualität, wenn die Trauben für einen Wein physiologisch reif geerntet wurden. Für leichte, frische Weißweine kann es durchaus Sinn machen, die Trauben vor der physiologischen Reife zu ernten und bei Prädikatsweinen, die Überreife oder gar Edelfäule benötigen reicht die physiologische Reife gar nicht aus.

Im Prinzip ist die physiologische Reife der Zeitpunkt, an dem die Rebe von sich aus der Meinung ist, die Traube sei „fertig“. Das zeigt sie durch eine Harmonie von Zucker und Säure, durch eine geschmackliche Reife, durch reife Tannine, ausgereifte, verholzte Kerne, ein weitgehend verflüssigtes Fruchtfleisch und eine weiche Schale mit angenehm schmeckenden Tanninen (bei den Rotweinsorten). All diese Eigenschaften sind natürlich kein Nachteil für einen Wein von hoher Qualität. Wie aber auch das Verkosten von Weinen ist das Beurteilen der physiologischen Reife eine äußerst subjektive Sache.

Da werden Schalen zerkaut, Traubenkerne begutachtet und zerbissen, um festzustellen, ob sie noch bitter schmecken, die Konsistenz des Fruchtfleisches analysiert, Aromastoffe bewertet, das Trenngewebe zwischen Beere und Beerenstiel inspiziert und vieles mehr. Ein weites Feld also, mit dementsprechend vielen Interpretationsmöglichkeiten.

Überreife und Botrytis 

Über das Stadium der physiologischen Reife hinaus gibt es für den Rebstock keinerlei Grund, die Trauben weiterzuentwickeln. Sie erfüllen ihre natürliche Funktion, Tiere anzulocken, die sie fressen, und über ihren Kot die Kerne weiterverbreiten. Der Rebstock nützt daher die wenigen verbleibenden Tage vor Winterbeginn, um seine Triebe frosthart zu machen und Reservestoffe einzulagern.

Der weitere Reifeverlauf der Trauben beruht in erster Linie auf äußeren Einflüssen. Bei trockenem Wetter beginnen die Beeren bei intakter Schale durch Verdunstung einzuschrumpfen, was zu einer langsamen Zunahme von Zucker und Säure führt. Feuchtes Wetter beschleunigt das reifebedingte Weichwerden der Beerenschale ohne, aber auch mit Botrytis-Edelfäule. Folgt auf die Beinahe-Auflösung der Schalen trockenes Wetter, verdunstet der Wasseranteil des Traubensaftes und die Beeren schrumpfen (in Jahrgängen wie z.B. 1969 in atemberaubendem Tempo, in anderen Jahrgängen aber auch nur sehr zögerlich) mit entsprechender Zucker-, Säure- und Extraktkonzentration ein.

22 Gedanken zu „Wann sind die Trauben reif?“

  1. Nicht damit Du denkst, hier liest keiner mit. 😉 Ganz im Gegenteil, mir fehlen nur die Worte.

    Inhaltlich hochinteressant und zugleich ungemein gut lesbar! Chapeau!

    Mehr davon !!

    Viele Grüße
    Matthias

  2. Wow Bernhard,

    wenn Du mal keine Lust mehr auf Deinen Beruf hast, wärst Du bestimmt ein begnadeter Redakteur bei der ‚Sendung mit der Maus‘ 😉
    Wieder viel gelernt.
    Danke
    F.

  3. Hallo Bernhard,

    kannst Du bitte auch Matthias erklären, wie man konkret die Trauben liesst? Ich habe nähmlich eine mulmiges Gefühl, dass er selber bald Rieslingtrauben pflücken muß 🙂

    (Glaskugel rausholen: Hmmmm, Oktober, spät, sehr spät, fett glänsende Trauben mit rund 100 Oechsle, GG (Grosses Geschwätz) im sicht – aber was sind denn das für Pilze die die vereinzelt auf den Trauben zu finden sind? Rohfäule? Oder doch Edelfäule? Penicillin? Ich bin doch nicht erkältet? Was machen die Ohrwürmer in den Trauben. Warum haben alle im Weinberg zwei kleine Lesekisten dabei? Was machen die Kinder die Rosinen aus den Trauben wegschneiden eigentlich?

    Viele Grüße und vielen dank 😉

    Lars

  4. Wie, ich soll nicht wissen wie ich lesen soll? Ich, der ich seit vielen Jahren alles lese und trinke was ich zum Thema Wein in die Finger bekomme? 😉

    Die Lese heißt Lese weil man die Trauben vom Boden aufliest. Schließlich will man Wein mit Terroir. Zwei Körbchen hat man, damit man die Steinpilze, die Ende Oktober im Weinberg wachsen auch noch mitnehmen kann. Und die Rosinenwerden getrennt weil sie bei Winzers abends in den Kaiserschmarrn kommen. Ist doch einfach!

    Lieber Lars, überlass’ das Lesen ruhig uns Experten. Sorgt ihr Winzer lieber dafür, dass ihr das mit der physiologischen Reife und der Säurereife und der Zuckerreife und dem Geschmack zum richtigen Zeitpunkt auf die Reihe bekommt. Das ist ja kompliziert genug.

    äääähhh, psst, Bernhard, ein paar Fragen hätt’ ich noch zur Lese, aber es muss ja nicht hier in aller Öffentlichkeit sein. 🙂

    Matthias

  5. „Die Lese heißt Lese weil man die Trauben vom Boden aufliest. Schließlich will man Wein mit Terroir. Zwei Körbchen hat man, damit man die Steinpilze, die Ende Oktober im Weinberg wachsen auch noch mitnehmen kann. Und die Rosinenwerden getrennt weil sie bei Winzers abends in den Kaiserschmarrn kommen. Ist doch einfach!“

    Aaaurrrrrgh….. 🙂 🙂 🙂

  6. ich gehöre zu den Leuten die sich solche, fast bin ich geneigt zu sagen Anleitungen, ausdruckt und gegebenenfalls im Bett liest. Besten Dank für das Stück fundiertes Wissen, schwarz auf weiß. Toll!
    Tim

  7. sehr sehr schöner Artikel

    Frage: wie messe ich die Säure während der Reifung der Trauben – insbesondere die Zusammensetzung der einzelnen Säuren ?

  8. Danke für das Kompliment!

    Die Säuremessung während des Reifeverlaufes der Trauben funktioniert so wie die des Weines und kann von jedem Kellermeister selbst gemacht werden:

    100 oder 200 Beeren repräsentativ aus dem ganzen Weingarten sammeln, auspressen, Saft durch ein Sieb seihen, 10 (oder 25, je nach Verfahren) Milliliter dieses Saftes mit Blaulauge bis zur Umfärbung (=pH 7,00 d.h. neutral) titrieren

    Die titrierbare (Gesamt)Säure entspricht dem Verbrauch an Blaulauge in Milliliter, d.h. wenn 7,3 ml Blaulauge benötigt wurden, um den Traubensaft zu neutralisieren, dann hat dieser 7,3 g/l Säure.

    Die Zusammensetzung dieses Gesamtsäuregehaltes ist normalerweise nur von Labors zu analysieren, oft mit enzymatischen Methoden. Den tatsächlichen Gehalt an Weinsäure und Äpfelsäure in den jeweiligen Trauben muß man als Kellermeister aber nur in besonderen Einzelfällen wissen.

    Für den Hausgebrauch genügt es, die Tendenz des Jahrgangs zu kennen, und die läßt sich recht gut an den „offiziellen“ Messungen des Bundesamtes und der Weinbauschule Kloburg bzw. dem Verhältnis von pH-Wert zu Gesamtsäure abschätzen.

    Grüße

    Bernhard

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